Indien Trilogie – Teil 2
Martin: Heute steht ein weiterer Highlight unserer Reise auf dem Programm: der höchste befahrbare Bergpass der Welt, der Kardung La! Wir beschliessen um 5 in der Früh aufzustehen um den Sonnenaufgang von oben zu bewundern… dazwischen liegen über 2.300 Höhenmeter. Wir verlassen Leh und über endlose Serpentinen geht´s den ersten Berghang hinauf. Unterwegs treffen wir eine Gruppe Bäuerinnen die auf dem Weg zu ihren Yak-Herden sind. Sie winken uns zu und gemeinsam machen wir auf einem der vielen Aussichtsplätze entlang der Strasse halt, wo sich vor uns das wunderschöne und beeindruckende Panorama der über 6.000m hohen Stok-Range offenbart.
Je höher wir kommen, desto kälter wird es und um uns herum wird es immer weißer. Die Strasse ist bis auf die letzten Kilometer in bemerkenswert gutem Zustand, kurz vor dem Pass endet allerdings der Asphalt und es geht in einer Mischung aus leichtem Schlamm, gefrorener Pfützen und Schlaglöchern weiter. Ein paar Serpentinen vor dem Pass kommen wir bei einem der vielen „Strassenschilder“ der Straßenbaubehörde vorbei und müssen beide lachen: „You are driving up on the highest mountable road in the world – and not a shortcut to heaven! Drive save”.
Oben angekommen ist die Luft merklich dünner und jede Bewegung bringt uns ausser Atem. Zusätzlich ändert sich das Wetter ziemlich schlagartig, es ziehen Wolken auf, beginnt leicht zu schneien und es wird saukalt. Obwohl wir eigentlich geplant hatten über den Pass weiter ins Nubra Tal zu fahren, beschliessen wir doch lieber umzukehren. Da ich die Fahrt hinauf mit unserer Helmkamera mitgefilmt habe und am Paß draufgekommen bin, dass die volle Speicherkarte die Ankunft am Pass nicht mitgefilmt hat, beschliesse ich ein Stück zurückzufahren und den Teil nochmals aufzunehmen. Blöderweise ist die Strasse ziemlich eng und beim Umdrehen durch den Schnee am Straßenrand rutscht mir Eva-Dos unterm Hintern weg. Schon mal ca. 250 kg alleine auf über 5500m hochgehoben? Nein? Ich auch nicht 🙂 Per pedes gehts zurück zum Pass um Sebastian zur Hilfe zu holen. Im Nu richten wir sie zu weit wieder auf, die Ankunft wird nochmals gefilmt und es geht zurück nach Leh.
Nach zwei weiteren Tagen in Leh brechen wir zum Pangong Lake auf, einem Bergsee an der Grenze zu Tibet auf 4.300m. Es geht vorbei an kleinen Dörfern mit auf Hügeln oder in Berghängen errichteten buddhistischen Gompas (Klöstern) bis uns die Strasse in Serpentinen bis zum Chang-La Pass hinauf führt, dem dritthöchsten befahrbaren Pass der Welt. Die Strasse ist in Top Zustand und die Landschaft atemberaubend. Abgesehen von ein paar Militäreinrichtungen und kleinen Dörfern führt uns die Strasse durch unberührte Natur. Wir fahren von einem Tal ins nächste, sehen Yaks und Ziegen frei auf saftigen Weideflächen grasen und die Gipfel der Berge rundherum sind mit Schnee überzogen. Kurz vor dem See ändert sich die Landschaft schlagartig, alles Grün wird von Sand abgelöst und mir kommt es vor, als ob wir auf einmal durch die Wüste fahren würden. Als wir endlich den See erreichen ist es schon dunkel, der Asphalt hört auf und im Finsteren geht es auf einer Schotterstrasse, die mir eher wie eine Motocross-Piste vorkommt, dem Ufer entlang auf die Suche nach einer Unterkunft. Nach zwei Stunden fahrt erreichen wir endlich ein sauteures Zeltlager direkt am See und können zum Glück den Preis um die Hälfte runterverhandeln, da wir zu müde sind weiter zu suchen.
Wir stehen zeitig auf und bewundern bei einer heissen Tasse Tee einen wunderschönen Sonnenaufgang am See. Was viel dazu beiträgt ist, dass die Landschaft um den See, bis auf ein paar vereinzelte Lehmhäuser von Bauern und wenigen Zelt-hotels praktisch unberührt ist. Das Wasser ist glasklar und mit den umliegenden Bergen ist die Naturkulisse schier unglaublich. Hier freunden wir uns mit zwei netten Inderinnen aus dem Süden an, mit denen wir sehr interessante Gespräche über Lebensphilosophien, soziales Engagement und die indische Gesellschaft führen. Wir lernen, dass Indien aus vielen unterschiedlichen Volksgruppen besteht, jede hat eine eigene Sprache, Werte und Traditionen. Menschen aus gebildeteren Schichten wachsen so mindestens dreisprachig auf: lokale Sprache, Hindu und Englisch. Je nach Volksgruppe wird das Kastenwesen – obwohl offiziell verboten – unterschiedlich gelebt. In einigen spielt es keine Rolle, in anderen wird noch streng danach gehandelt. Kurz zur Erklärung: das Kastenwesen gliedert sich in 4 Hauptkasten, die weniger mit Wohlstand, als mit dem Tätigkeitsbereich zusammenhängt (e.g. die oberste Kaste, Brahmanen, sind die Gebildeten (Lehrer, Priester,..), die unterste Shudras (Bauern, Handwerker). Streng genommen heiraten sie nur untereinander und der Aufstieg von einer Kaste zu einer höheren ist praktisch unmöglich… was auch der Hauptgrund dafür ist, dass es offiziell verboten wurde). Was in vielen Teilen Indiens traurig ist, ist die Situation von Frauen. Töchter werden von ärmeren Familien oft nach der Geburt direkt ins Waisenhaus gesteckt oder sogar umgebracht. Der Grund entspringt einer uralten Tradition: früher war es üblich dass die Familie der Braut der Braut je nach Kaste ein Goldgeschenk oder Geld mitgibt, da diese normalerweise zur Familie des Bräutigams zog und so quasi eine Erinnerung an ihre Familie bei sich hatte. Das hat sich über die Zeit allerdings zu einem “Brautpreis” gewandelt, den die Familie des Bräutigams für die Eheschließung verlangt und mit der Zeit immer dreister wurde. Das führte trauriger weise dazu, dass besonders bei ärmeren Familien die Hochzeit der Tochter zum finanziellen Ruin führen kann.
Nachdem sich Sebastian anscheinend in einem Anfall von Wahnsinn in den sau-kalten See geschmissen hat, treffen wir eine Gruppe Reisender die in der Nähe von unserem Zelthotel bei einer Bauernfamilie übernachtet hat. Wir erfahren, dass viele Familien als Zusatzverdienst ein Gästezimmer hergerichtet haben. Nicht nur, dass es billiger als unser Hotel ist, erscheint uns der sog. Home-Stay um vieles interessanter und so checken wir sofort aus und bei einer Familie ein 🙂 Unsere Gastgeber sind eine liebe ältere Bäuerin mit ihren zwei Enkeln, das Zimmer sehr einfach (sprich Matratzen und Decken), das Klo ist draussen, an das Haus angrenzend ist das Tiergehege mit Kühen und Ziegen. Fliessend Wasser gibt es keines, es wird mit Kanistern von einem zentralen Brunnen geholt. Wir genießen den Blick auf den dunkelblauen See und Sebastian schlägt vor, dass wir einen der Berge erklimmen. Warum nicht? 🙂
Am nächsten Tag brechen wir in der Früh auf, es geht über einen Schotterweg entlang eines Bergbachs und an einer kleinen Gompa vorbei, bevor wir den Fuss des Berges erreichen. Von der Ferne hat er weniger Steil ausgesehen und was wie harter Untergrund gewirkt hat, entpuppt sich als Geröllhang. Es gibt keine Pfade, also suchen wir uns unsere eigenen, im zick-zack arbeiten wir uns langsam empor. Die Luft wird immer dünner und bald müssen wir alle 5 Minuten eine Pause machen. Nach 6 Stunden sind wir Nahe am Gipfel und beschliessen hier zu stoppen. Wir sind total fertig…laut dem Höhenmesser unserer Panasonic Tough Kamera haben wirs immerhin auf 5.300m geschafft 🙂 Die Anstrengung hat sich gelohnt, der Ausblick auf den tiefblauen See und die umliegenden pastellfarbenen Berge ist unbeschreiblich schön. Es ist absolut still, man hört nur das sausen des Windes und beide versinken wir in unsere eigene Gedankenwelt.
Wir verlassen diesen wunderschönen Ort und brechen Richtung Manali auf. Wir übernachten wieder bei einer netten Familie, die uns ihr Wohnzimmer überlässt und am nächsten Tag nehmen wir den zweithöchsten befahrbaren Pass in Angriff, den Tanglang La. Leh und Manali trennen ca. 450km. Soweit so gut, die Krux an der Geschichte ist nur, dass es angeblich dazwischen keine Tankstelle gibt und wir nur einen 10l Reservekanister haben. No Risk no fun, und so tanken wir und beschliessen einfach in den Leerlauf zu schalten, wenns bergab geht und hoffen, dass es sich irgendwie ausgeht. Es geht von einem Tal ins nächste, die Serpentinen scheinen kein Ende zu nehmen. Am Paß angelangt machen wir eine Pause und wie aus dem Nichts kommt uns ein alter buddhistischer Mönch entgegen, der uns belustigt bei unseren Jump-Fotos zusieht und sich in meine Gloryfy Brille verliebt 🙂
Nach dem Pass fahren wir entlang eines Plateaus, die Strasse ist kerzengerade, es ist wunderschöner blauer Himmel und links und rechts ein Meer aus Sand. Kurz vor Pang wird das Plateau von einer tiefen Schlucht zerrissen, es geht in Serpentinen die Schlucht bergab und wir erreichen die Zeltstadt, wo wir beschliessen zu übernachten. Die Zelte werden von Familien während der 6-monatigen Hochsaison betrieben und wirken auf mich wie Beduienenzelte, vorne der Sitzbereich mit Kochnische und kleinem Shop und hinten der Schlafbereich. Wir verbringen den Abend mit der Tochter der Zeltbesitzerin, die zwei Freundinnen mitbringt und gemeinsam erwärmen wir uns an der einzigen Feuerstelle des Zeltes, dem Gaskocher. Das hier andere Sitten herrschen wird uns klar als auf einmal, wie aus dem nichts heraus, alle drei ein Zündholz hervorziehen und sich vor uns die Ohren putzen und den Ohrenschmalz auf ihren Kleidern abwischen. Wir schauen uns beide verdutzt an und da ich mir nicht sicher bin was das zu bedeuten hat, gehe ich lieber mal hinaus eine Zigarette rauchen und überlasse Sebastian seinem Schicksal. Ich habe Sebastian schon lange nicht mehr so sehnlichst auf mich warten sehen wie heute 🙂
Die Nacht wird zur schlimmsten Nacht seit wir auf unser Abenteuer aufgebrochen sind. Es ist sau kalt, die Temperaturen klettern auf zwischen -10 und -15 Grad und beide zittern wir die Nacht durch. Wir stehen entsprechend früh auf und wie noch nie zuvor warten wir auf die ersten Sonnenstrahlen, um uns aufzuwärmen. Wir packen unsere Sachen und brechen auf. Unser Ziel: Manali. Ob unser Tank wohl ausreicht? 🙂